Mit dem Schlauchboot übers Meer

Draußen steigern sich die frommen Gesänge, die seit Wochen jeden Abend von der nahen Moschee herüber hallen, ins Ekstatische. Morgen ist der Höhepunkt erreicht: Mouled en-Nabi, der Geburtstag des Propheten Mohamed, der wie alle islamischen Feiertage rückwärts durchs Jahr wandert. Mein Kiefernsamenpudding Zgougou kocht vor sich hin (alleine, dank Thermomix). Sehr speziell, dieser Pudding, etwas nussig-schokoladig mit diesem Tick Fichtelnadel-Geschmack. Ich finde ihn gar nicht mal so schlecht, aber einmal im Jahr ist genau die richtige Frequenz.
Was ich eigentlich erzählen wollte, während der Pudding auf kleiner „Flamme“ köchelt:

Letzte Woche kam mein Stiefsohn nach Hause und verkündete, dass er mit seinen beiden Freunden mit dem Schlauchboot übers Mittelmeer nach Europa fahren werde.
Dort wollen sie dann ein Unternehmen gründen. Im Prinzip nichts wirklich Neues. Nur, dass er und seine Freunde erst 8 Jahre alt sind und momentan in die dritte Klasse gehen.
Während in dieser Altersklasse in Deutschland vielleicht noch Pilot oder Rennfahrer im Focus sind (bin nicht ganz up to date), ist hier schon den Jüngsten klar, dass in Tunesien nichts zu holen ist.
Nicht mal mit Studium. Eher noch im handwerklichen Bereich, aber selbst als vielbeschäftigter Handwerker verdient man einfach zu wenig, um sich wirklich was aufbauen zu können. Kürzlich hatten wir Arbeiter da, die den Bauschutt vom Dach geräumt haben, 6 Stunden lang. Sie bekamen Frühstück und Mittagessen und an Geld das, was sie verlangten: 25 Dinar. Das sind 7,50 Euro, 1,25 Euro Stundenlohn. „Gib ihnen wenigstens 30“, sagte ich zu meinem Mann. Heiraten und Familie gründen ist für diese Arbeiter quasi unerschwinglich. Denn wirklich billig ist das Leben hier auch nicht. Billig sind Brot, Nudeln, Couscousgrieß und Gemüse. Käse und nicht typisch tunesisches ist fast so teuer wie in Deutschland und alte, gebrauchte Autos kosten das drei-bis vierfache dessen, was sie in Deutschland gehandelt werden (so sie in Deutschland überhaupt jemand kaufen würde). Eine Tasse Kaffee kostet zwischen 1 Dinar (33 Cent) und 3 Dinar (1 Euro). In meinem Lieblingscafé kostet er leider 3, denn da zahl ich die Aussicht mit.


Gestern las ich irgendwo einen Post, in dem jemand behauptete, Tunesien stünde kurz vor dem Bürgerkrieg. Das ist natürlich kompletter Quatsch. Wer soll sich bekriegen? Den einen gehts so schlecht wie den anderen. Ja, bei uns sind Couscous und Zucker rationiert, Butter gabs letzte Woche schon nicht und auch diese bin ich nicht fündig geworden. An Waren herrscht dennoch kein Mangel. Kaum eine Woche vergeht, dass nicht irgendwo ein Depot entdeckt wird, in denen Anhänger der islamistischen Ennahda-Partei Lebensmittel horten, um eine künstliche Verknappung hervorzurufen. Damit beabsichtigen sie, das Volk gegen den Präsidenten Kais Sayed aufzuwiegeln. Der ist ein vielbeschäftigter Mann und arbeitet vor allem daran, die allgegenwärtige Korruption auszurotten, mehr als ein Vollzeitjob. Die Entlassung der (korrupten) Richter und ähnliche Aktionen, die im Westen immer von einem Aufschrei kommentiert werden: „Der Präsident entwickelt sich zum nächsten Diktator“ sind mehr als notwendig und überfällig. Die Tunesier haben eingesehen, dass sie zu einer Demokratie noch nicht fähig sind: über Monate hat die Opposition alle Versuche des Präsidenten blockiert, etwas zu bewegen, und damit ist jetzt Schluss. Das Gejammer der Islamisten ist reine Show. Sie sind die letzten, die eine wirkliche Demokratie wollen. Sie wollen ihre alte Macht zurück und wieder an ihre Schwarzgeldquellen und ihre Vetternwirtschaft.
Ich könnte etliche Storys erzählen, was sich schon zum Besseren geändert hat. Allerdings reicht es noch bei weitem nicht: Die Wirtschaft liegt dennoch am Boden.

Es sind einfach zu viele Baustellen, die durch jahrzehntelange Korruption entstanden sind. Das ganze Entwicklungshilfegeld aus Europa hätte niemals unkontrolliert den Tunesiern (oder Ägyptern oder oder oder) übergeben werden dürfen. Nur häppchenweise, mit Nachweispflicht, was für wen und was bezahlt wurde, was gebaut wurde, was organisiert wurde etc. und am besten mit solchen Kontrollgruppen der Spenderländer, die sich auskennen und nicht verarschen lassen. Ich meine, die Deutschen sind ja gerade in derartiger Bürokratie hervorragend, eigentlich: Wenn man sein Haus wärmedämmt und dafür einen Zuschuss vom Staat haben will, muß man jede Schraube und jeden Zentimeter Dämmmaterial nachweisen und überprüfen lassen. Und erst DANACH fließt das Geld. Doch leider sind 95% der europäischen Entwicklungshilfe-Millionen in privaten Säckeln gelandet, hier wie in allen anderen Entwicklungsländern.

Derzeit herrscht Exodus in Tunesien. Die Zahl der Bettler:innen (vor allem Frauen) hat sich verdreifacht. Wer gehen kann, geht. Die einen mit dem Schlauchboot, die anderen mit einem Arbeitsvertrag.  Kürzlich traf ich mich mit meiner früheren Arabischlehrerin, weil ich mit ihr Konversationsstunden vereinbaren wollte, um mein Hörverständnis zu verbessern. Sie fragte mich direkt, ob ich nicht in einer neu eröffneten Sprachschule Deutsch unterrichten wolle. Der tunesische Schuldirektor lebt in Deutschland, hat einen Partner in Tunis und inzwischen mehrere Sprachschulen eröffnet: in Tunis, in Monastir, in Gabes und im Juni auch in Gafsa. Das Klientel sind Schüler:innen, Student:innen sowie Krankenschwestern und Pfleger. Letztere erhalten nach bestandener Prüfung einen Arbeitsvertrag in einem deutschen Krankenhaus. Die Vermittlung läßt sich der Herr Direktor natürlich honorieren. Eine Win-Win-Konstellation, auch wenn die tunesischen Pfleger und Krankenschwestern ganz sicher nicht den deutschen Tariflohn erhalten, zumindest in den Anfangsjahren. Nur Tunesien blutet dabei weiter aus. Letztes Jahr verließen 1000 Ärzte das Land, um an französischen Krankenhäusern zu arbeiten.
Mit dem Job überlege ich noch: der Stundenlohn in dieser neuen Sprachschule ist für tunesische Verhältnisse top: 5 Euro die Stunde! Davon können die meisten nur träumen.

Meine Arabischlehrerin unterrichtet zwei Gruppen am Tag,  6 Std/Tag, 5 Tage die Woche, 120 Std im Monat, damit kommt sie auf knapp 600 Euro. Fast schon ein Managergehalt. Zuvor, in ihrer alten Sprachschule, bekam sie zwischen 1 und 3 Dinar, also den Preis für einen Kaffee.

So, mein Pudding ist fertig. Der Mixer klingelt….  Bis zum nächsten Mal

Das Titelbild zeigt die Deutsche Botschaft in Tunis, schwerst gesichert von Land und Seeseite. Für Visumanträge gibt es derzeit eine Wartezeit von 11 Monaten!!!! Vor Corona waren es 2 Monate!

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